Im katalanischen Hinterland wird einer Grossfamilie das Land entzogen, das sie seit Generationen bewirtschaftet. Regisseurin Carla Simón bringt uns mit Liebe und Präzision eine Lebensweise näher, die einen über die eigene nachdenken lässt.
Es ist die Geschichte eines Sommers, der mit einer Hiobsbotschaft beginnt: Grossvater Rogelio ist umzingelt von seinen erwachsenen Kindern, die nicht fassen können, dass es keinen Vertrag gibt, der belegt, dass ihnen die Felder rund um ihr Haus in Alcarràs rechtmässig gehören. Damals, zu Kriegszeiten, war das eben anders, da zählte noch das Wort eines Mannes. Nun besiegelt ein Brief des Enkels ihr Schicksal.
Mitten in der Hochphase der Ernte, bei der jetzt auch die Kleinsten eingebunden werden, erschwert diese Unsicherheit den Alltag. Dieser besteht darin, die Felder zu bewässern und nachts mit Pestiziden zu bespritzen, hungrige Hasen zu verjagen und tagsüber zu ernten, zu ernten, zu ernten. Die Arbeit und das Leben der Solés ist eins, und immer sind alle Familienmitglieder eingebunden. Vom ältesten Sohn Quimet und seiner Frau, die den Hof von Rogelio übernommen haben, über seine zwei Schwestern mit ihren eigenen Familien, eine Grosstante bis zu Quimets drei Kindern, zwei Teenagern und dem kleinen Mädchen Iris. Ob die Familie nun von Pfirsichen auf Solarstrom umsattelt, wie ihnen vorgeschlagen wird, darüber ist man sich nicht einig, schliesslich sind Pfirsichplantagen für sie nicht nur ein Erwerb, sondern Tradition, Stolz und Identität.
Regisseurin Carla Simón («Summer 1993») taucht ein in diese letzte Erntezeit und konzentriert sich auf das Greifbare: die Arbeit, die getan werden muss, komme, was wolle. Indem sie zeigt, was es bedeutet, Tag für Tag in der Landwirtschaft zu bestehen, wird auch die Hingabe und die Verbundenheit der Solés mit ihrem Land spürbar.
Man könnte fast meinen, dass es sich bei der Besetzung um eine echte Familie handelt, doch in Wahrheit ist der Cast der Kernfamilie mit Laien besetzt. Ihre Darstellerinnen und Darsteller hat die Regisseurin auf Dorffesten und politischen Veranstaltungen gesucht und gefunden. Es sind Menschen aus dieser Region Kataloniens. Sie kennen das Land, die Arbeit und die Probleme, was sich eindrücklich auch in ihren Gesichtern, ihren Bewegungen und dem charmanten Dialekt zeigt. Der gesamte Film fühlt sich so organisch an, dass einem die Übergänge in der Erzählperspektive geradezu entgleiten. Wenn man gerade noch mitten in der Verzweiflung des Grossvaters Rogelio steckte, der wehmütig am Pakt der Familien festhält, dessen Existenz er in Form eines Feigenbaums auf dem Grundstück belegt sieht, findet man sich gleich darauf mit der kleinen, frechen Iris im Gestrüpp der Pfirsichplantage wieder, wo sie sich – wie die Hasen, die sich einfach nicht vertreiben lassen – mit einem saftigen Pfirsich versteckt. Es ist diese vielschichtige Erzählung, der es mit wenigen Worten geradezu spielerisch gelingt, komplexe Gefühle und Beziehungen nachvollziehbar zu machen.
Einen grossen Anteil daran haben auch die Bilder von Kamerafrau Daniela Cajías, sie sind so flink, lebendig und sensibel, dass sie trotz dem alltäglichen Trubel gekonnt auch die unterschwelligen Spannungen in der Familie aufgreifen. Als Ganzes entwickelt «Alcarràs» eine solche Intensität, dass man sich am Ende selbst als Teil dieser wunderbaren Grossfamilie wähnt.
Und bis zur letzten Szene erwarten wir mit den Solés gemeinsam ihr Schicksal. Carla Simón inszeniert einen wunderbaren Abschluss, bei dem die Kamera solidarisch den Fokus auf der Familie behält. Die politische Dimension, die von Anfang an subversiv mitschwingt, entlädt sich zum Schluss. Nicht nur in Spanien befindet sich die traditionelle Landwirtschaft im Wandel. Hohe Lieferquoten und unverschämt niedrige Erzeugerpreise üben Druck aus. Es sind eben auch unsere Bedürfnisse, welche die Bedingungen der Bauern mitzuverantworten haben. Man kann von einem Problem wissen und trotzdem nicht verstehen, was es in der Praxis bedeutet. Die Regisseurin findet einen wunderbaren Weg, das ein klein bisschen zu ändern. Auch die Berlinale-Jury hat das erkannt und Carla Simón dafür mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.