Cannes Cowboys

Cannes Cowboys

Festivalbericht – Cannes 2023

Aargauer Zeitung 24.05.2023

Die Regisseure Scorsese und Almodóvar erfinden in Cannes den Western neu.

Es bewegt sich wieder etwas im amerikanischsten aller Filmgenres. Zwar gibt es sie noch, die Geschichten der starken Männer auf schnellen Pferden, die sich aufopferungsvoll um ihre Herden (Frauen und Kinder eingeschlossen) kümmern und dabei erbarmungslos, aber immer im Recht gegen ihre zweifelsohne verdorbenen Gegner vorgehen. Gerade in den archaischen Elementen liegt der Reiz des Westerns.

Doch die interessanteren Filme sind jene, die diesen starren Vorstellungen den Rücken zukehren. Indem Filmschaffende mit den Stereotypen spielen, die «Cowboy und Indianer»-Narrative kritisch beleuchten und in ihre Abenteuer aktuelle Themen einfliessen lassen, bringen sie kontroverse Anti- und Neo-Western hervor.

Cannes Cowboys
Warner Bros. Ent. All Rights Reserved

Queere Westernversion als lustvolle Hommage

Zur Liste der grossen Namen, die sich des Genres angenommen haben, gesellen sich in Cannes nun Pedro Almodóvar mit seinem queeren Western-Kurzfilm «Strange Way of Life» und Martin Scorsese, der seinen lange erwarteten 206-Minüter «Killers of the Flower Moon» vorstellte. Almodóvar scheint in der Kurzform ein Ventil für seine unermüdliche Regie-Lust gefunden zu haben.

Von «Brokeback Mountain» inspiriert, erzählt er in 30 Minuten die Geschichte von entfremdeten Liebhabern, die sich nach 25 Jahren wiedersehen: Sheriff (Ethan Hawke) und Cowboy (Pedro Pascal) verbringen eine wilde Nacht zusammen, bevor sie sich durch unglückliche Umstände am Ende mit den gezogenen Revolvern gegenüberstehen. Die Erzählung bleibt heiter und Almodóvars Inszenierung gewohnt theatral. Hawke und Pascal in den Rollen zu sehen, hat satirische Züge, doch kippt die Komödie nie ins Lächerliche. Almodóvars queere Westernversion ist eine lustvolle Hommage, die eine wunderbare und verspielte Selbstverständlichkeit mitbringt.

Mit «Killers of the Flower Moon» legt Martin Scorsese eine Adaption des gleichnamigen Buches des amerikanischen Journalisten David Grann vor. Damit begründet er vielleicht ein neues Unter-Genre: den «True Crime»-Western. In den 1920er-Jahren angesetzt, erzählt der Film von den mysteriösen Todesfällen unter der durch die Ölindustrie zu Wohlstand erlangten nordamerikanischen Minderheit der Osage. Der 100 Jahre zurückliegende Fall wurde erst aufgeklärt, als das FBI die Täter unter den weissen Angehörigen entlarvte. Leonardo DiCaprio spielt einen eingeheirateten Ehemann, der von seinem Onkel und kriminellen Oberhaupt (Robert De Niro) manipuliert wird.

Die Verbrechen gegen die Osage

In Cannes ist neben dem Cast auch ein Angehöriger der Osage, Chief Standing Bear, anwesend – ein wichtiges Zeichen für die gelungene Zusammenarbeit und Scorseses Bemühungen, neben der Sprache der Osage auch die Lebensweisen der Minderheit angemessen darzustellen. Wie nahe ihm die Geschichte geht, wird am Ende klar: In einem emotionalen Cameo-Auftritt spricht sich der Regisseur für ein Ende des Schweigens über die Verbrechen gegenüber amerikanischen First Nations aus.