Der Schweizer Film öffnet sich der Welt
An den Solothurner Filmtagen machen Nachwuchstalente ihre ersten Schritte vor grossem Kinopublikum. Die Werkschau, die sich ausschliesslich dem Schweizer Film widmet, stellt den Nachwuchs gerne heraus. Der junge Autorenfilm schöpft aus dem Vollen und ist frei in Form und Gestaltung. Doch wenn alles möglich ist, lassen sich dann überhaupt noch gemeinsame oder gar nationale Tendenzen ausmachen? Das Team um Niccolò Castelli, den neuen künstlerischen Leiter der 58. Ausgabe der Solothurner Filmtage, hat im Auswahlverfahren 642 Filme aus der Schweiz visioniert und daraus seine Schlüsse gezogen. Castelli räumte einer «Generation Diaspora» in seinem Programm viel Platz ein, kuratierte ein Kurzfilmprogramm und lud zum Abschluss des Festivals im Film Brunch Fare Cinema zum Gespräch mit ihnen ein.
Reisen zwischen den Welten
Unter dem bewusst provokanten Label versteht er Filmschaffende, die aus Einwandererfamilien kommen und/oder Verwandte im Ausland haben. Ihre filmischen Ansätze zeichnen sich durch eine konzeptuelle Stärke aus, sie begeben sich in ihren Filmen auf eine Reise in diese internationale Vergangenheit und hinterfragen so ihre eigene Identität. «Auch vor zehn oder fünfzehn Jahren haben Schweizer Filmemacherinnen und Filmemacher auf die Welt geschaut, aber meistens aus der Perspektive der Schweiz, die eine neutrale Insel war. Heute aber gehört für mich die Welt zur Schweiz», sagt Niccolò Castelli. So sucht Sara Furrer in ihrer Reise einen eigenen Zugang zur Geschichte ihres syrisch-italienischen Grossvaters, den sie nur aus Erzählungen kennt. Im dokumentarischen Kurzfilm «Il nonno che non c’è» setzt sie die Suche ihrer Mutter in einer italienischen Küstenstadt fort. Als weitere Ausgangspunkte dienen Liebesbriefe und einige gemeinsame Fotografien der wenigen glücklichen Momente in Italien. Aus dieser Collage von Szenen der Recherche vor Ort und Archivmaterial ergibt sich bald eine intime Entdeckungsreise in eine neu zu entdeckende Familiengeschichte. Mutig exponiert sich die Regisseurin auch vor der Kamera und wächst in die Rolle der Suchenden hinein, die eigentlich gar nicht davon ausgegangen war, etwas zu finden.
Doch muss nicht immer eine Leerstelle in der eigenen Familienbiografie der Ausgangspunkt einer Reise sein. Konkreter beleuchtet Ivan Petrovic in «Kome ptice lete» das Reiseritual seiner Familie in einer Art liebevollen Selbstbeobachtung. Aus der Zusammenarbeit mit seiner bosnischen Familie erarbeitet er eine Dokufiktion, die diese Erfahrung exemplarisch mit dem Publikum teilen will. Es geht um die hektische Situation kurz vor der Abfahrt aus der Schweiz mit dem Auto und die erwartungsvolle Stille im bosnischen Heimatdorf. In den beiläufigen Gesprächen seiner Figuren während der Reisevorbereitungen werden die Vorstellungen über das bevorstehende Wiedersehen von beiden Seiten ehrlich und humorvoll betrachtet. Sie zeichnen ein spannendes Bild dieser Beziehungen, die für die Identitätsbildung von Familien mit Migrationsgeschichte so grundlegend sind. «Kome ptice lete» leistet somit einen authentischen Beitrag zur Repräsentation dieser Familien, ohne auf stereotype Vorstellungen zurückzufallen.
Der Film als Selbstimagination
Eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Vorstellungen, in diesem Fall von Geflohenen und Zurückbleibenden, ist auch ein zentrales Motiv im epischen Langfilm «The Land Within» von Fisnik Maxville. Er läuft im Wettbewerb um den Hauptpreis, den Prix de Soleure. Die Geschichte handelt von einem jungen Mann, der in seine Heimat Kosovo zurückkehrt, um ein trauriges Familiengeheimnis aufzudecken, das ihn dazu bringt, seine eigene Identität neu zu betrachten. Das Beeindruckende an diesem fantastischen Filmwerk ist die Wucht, mit der es dem Regisseur gelingt, die Träume, Ängste und Bedürfnisse seiner Figuren in eine eigenständige filmische Sprache zu übersetzen. Der Regisseur betont, dass er sich bewusst gegen einen sozialrealistischen Ansatz entschieden hat, auch um mit dieser formalen Erwartungshaltung an seinen Film zu brechen. Maxville thematisiert die transgenerationalen Traumata der Nachkriegsgeneration und findet einen souveränen Umgang mit der politischen Dimension, was «The Land Within» zu einer wahrhaft universellen Erzählung macht.
Die «Generation Diaspora» löst sich von den Erwartungen an sie und schafft Überraschendes, ohne sich zu verlieren. Die Diversität ihrer Biografien zeigt sich mehr und mehr in den Filmen und wird von der Ausnahme zur willkommenen Regel in der Schweizer Filmszene. Der Schweizer Film kann doch mehr als nur deutschschweizerische Beziehungskomödien.