La Chimera

La Chimera

Rezensionen

NZZ am Sonntag 05.10.2023

Alice Rohrwacher erzählt in «La Chimera» eine märchenhafte Geschichte um eine muntere Bande toskanischer Grabräuber, die in den Achtzigern nach verborgenen Gruften der Etrusker suchen. Das Drama hinterfragt unseren Umgang mit kulturellem Erbe und wirft einen von Klischees befreiten Blick auf das ländliche Italien.

Man nennt sie die «Tombaroli», die toskanischen Grabräuber, die nach verborgenen Gruften der Etrusker suchen. Die Menschen des antiken Volks bemalten Vasen und Schalen kunstvoll mit Szenen aus ihren Leben, schnitzten Figuren und Spielzeuge, erbauten ihren Verstorbenen unterirdische Grabdenkmäler und legten all diese Schätze grosszügig bei. Reichtümer, die nie dafür gedacht waren, wieder in die Hände der Lebenden zu gelangen. Alice Rohrwacher erzählt in «La Chimera» die beinahe märchenhafte Geschichte von sieben Tombaroli in den achtziger Jahren. Es ist eine muntere Bande von jungen Männern und Frauen, die tagsüber als Gaukler und Schausteller unterwegs sind – ihre nächtlichen Plünderungen sehen sie als eine weitere legitime Einnahmequelle.

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Nur einer von ihnen, der schwermütige und wortkarge Brite Arthur (Josh O’Connor), hat eine ganz spezielle Verbindung zur Unterwelt. Getrieben von einer unbestimmten Sehnsucht nach dem Totenreich haben für ihn all die Reichtümer eine andere Bedeutung. Wenn er ihre Nähe spürt, verliert er für einen Moment das Bewusstsein. Das sind die Momente, in denen Rohrwachers Erzählen ins Märchenhafte hineinreicht, wenn auch mit ganz einfachen Stilmitteln. Es ist eine heimlich verspielte Art, mit der auch die Musiker im Film auftreten: Wenn sie Loblieder auf Arthurs Taten singen, entsteht eine narrative Metaebene, die die eigentliche Handlung für einen kurzen Moment unterbricht. Während die anderen Tombaroli davon träumen, mit Arthurs Hilfe endlich den Schatz zu finden, der ihnen ein besseres Leben beschert, wird der melancholische Einzelgänger in seinen Träumen von seiner verstorbenen grossen Liebe Beniamina heimgesucht. Die Erinnerung an Beniamina und die Nähe zu deren Mutter Frida (Isabella Rossellini) sind das Einzige, was Arthur in der kleinen italienischen Stadt hält. Bis er Italia (Carol Duarte), eine Gesangsschülerin Fridas und heimlich Mutter von zwei Kindern, kennenlernt.

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Es braucht etwas Zeit, bis man in Rohrwachers entschleunigte und sehr vielschichtige Erzählung eintaucht. Mit der Entscheidung für eine Kombination aus drei Filmformaten (16 mm, Super 16 und 35 mm), gibt sie ihren Bildern gemeinsam mit der Kamerafrau Hélène Louvart eine erdige und nostalgische Note. Allein schon die Bilder reflektieren auf eigene Art den Umgang mit der Vergangenheit, welchen Wert sie für uns hat und wie wir heute auf sie schauen. Die Figur Arthur stellt Rohrwacher gleich doppelt vor eine Wahl: Entscheidet er sich für das grosse Geld und lässt sich auf ein zwielichtiges Geschäft mit Schweizer Kunsthändlern ein? Und findet er die Kraft für einen Neuanfang mit Italia, oder zieht ihn seine Trauer endgültig hinab in die Unterwelt? Das Tarot-Motiv des Filmplakats fasst Alice Rohrwachers vierten Langfilm passend zusammen: Sie beschreibt die Welt als Zeichensystem, je nachdem wie herum man auf die Dinge schaut, werden sie anders gedeutet. «La Chimera» hinterfragt unseren Umgang mit kulturellem Erbe und wirft einen von Klischees befreiten Blick auf das damalige ländliche Italien.