Nuestras Madres

Nuestras Madres

Rezensionen

NZZ am Sonntag 18.11.2020

Der Wahrheit auf der Spur

Die Aufarbeitung des Bürgerkriegs ist in Guatemala noch lange nicht abgeschlossen. In seinem Spielfilmdebüt schickt Regisseur César Díaz seinen Protagonisten auf die Suche nach seinem verschollenen Vater - und reisst alte familiäre Wunden auf. Ein Meisterwerk, das Hoffnung macht.

Das Wadenbein legt Ernesto (Armando Espitia) vorsichtig neben das Schienbein, an Mittel-, Ring- und Kleinfinger kommen die letzten Glieder, und eine zwölfte Rippe vervollständigt den Brustkorb. Bereits die erste Szene stellt darauf ein, dass es in «Nuestras madres» um ein Thema geht, das nur behutsam angefasst werden kann. Ernesto ist ein junger forensischer Anthropologe, der noch im Jahr 2018 damit beschäftigt ist, Spuren des guatemaltekischen Bürgerkrieges aufzuarbeiten. Ein Konflikt, der über dreissig Jahre lang wütete und erst Mitte der neunziger Jahre ein offizielles Ende fand. Die Vergangenheit bestimmt Ernestos Arbeit und scheint darüber hinaus auch seinen Alltag zu vereinnahmen.

Nuestras Madres
Trigon Film

Ob in Fernsehsendungen oder im Radio – überall hallen die Greueltaten von Efraín Ríos Montts Regime nach: Folter, Vergewaltigungen und Völkermord. Nur Ernestos Mutter Cristina (Emma Dib) will nichts mehr davon hören, ihr Mann, ein Untergrundkämpfer gegen das Regime, ist damals ebenfalls verschwunden, doch sie erzählt kaum von ihm. Die Bürde der Ungewissheit wiegt schwer auf Mutter und Sohn. Doch während Ernesto beinahe euphorisch auszieht, um der neuen Spur eines möglichen Massengrabs zu folgen, und dabei seinen Vater auf einem vergilbten Gruppenfoto der Guerilleros zu erkennen glaubt, zieht sich seine Mutter immer mehr zurück.

Nuestras Madres
Trigon Film

Ein Gerichtsverfahren gegen Täter von damals bringt andere Frauen dazu, ihr Schweigen zu brechen. Cristinas Schweigen hat einen guten Grund. «Nuestras madres» begleitet einen unaufhaltsamen Prozess der Wahrheitsfindung, der Mutter und Sohn zu erfassen beginnt. Unaufgeregt und doch mit stetem Nachdruck nimmt Regisseur César Díaz sich eines Tabuthemas der guatemaltekischen Gesellschaft an. Er porträtiert eine von den gewaltsamen Konflikten geprägte Familie sowie das Schicksal eines indigenen Volks, der Ixil, das nach später Gerechtigkeit verlangt.

Nuestras Madres
Trigon Film

In Díaz’ ersten Spielfilm flossen Erfahrungen mit ein, die er in dokumentarischen Projekten in Guatemala sammeln konnte. Dies spiegelt sich in einem nüchternen, fast dokumentarischen Stil wider, welcher der Erzählung Wahrhaftigkeit verleiht und sich trotzdem mit der nötigen Empathie dem emotionalen Thema nähert. Eine Leistung, die auch in Cannes erkannt und mit der Caméra d’Or ausgezeichnet wurde.

Nuestras Madres
César Díaz, Guatemala 2019