Der rumänische Regisseur Radu Jude ist eine der eigenwilligsten Persönlichkeiten des zeitgenössischen europäischen Autorenkinos. Seine Filme zeichnen sich durch einen eklektischen Erzählstil aus und üben sich humorvoll in Sozialkritik. 2021 gewann er auf der Berlinale den Goldenen Bären für seine Gesellschaftssatire «Bad Luck Banging or Loony Porn».
Im vergangenen Jahr erhielt Jude mit «Do Not Expect Too Much from the End of the World» den Spezialpreis der Jury in Locarno. Die zweieinhalbstündige Tragikomödie erzählt von Angela, einer übermüdeten und etwas anarchischen PR-Assistentin, die für ihre Arbeit durch Bukarest fährt. Parallel dazu kontrastieren Aufnahmen eines rumänischen Films über eine Taxifahrerin.
Die Ihnen gewidmete Werkschau im Filmpodium Zürich heisst «Wahnsinn der Wirklichkeit». Fühlen Sie sich vom Titel angesprochen?
Radu Jude: Nun, in meiner Arbeit versuche ich, der heutigen Realität eine bestimmte Form zu geben. Und in früheren Filmen habe ich mich mit der dunklen Vergangenheit der rumänischen Geschichte beschäftigt. Ich interessiere mich also für das Besondere, das man – von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet – für verrückt oder absurd halten könnte. Am wichtigsten ist mir aber das Thema. Mein bescheidener Wunsch ist es, einigen unserer realen Herausforderungen – verrückt oder nicht – ein filmisches Gesicht zu geben. Ich möchte, dass das Kino ein Werkzeug wird, um über Probleme nachzudenken.
Wie viel von Ihnen steckt in Ihren Figuren?
Ich muss Sie enttäuschen, zwischen meinen Figuren und mir gibt es nicht viele Bezüge, vom Offensichtlichen abgesehen. Und ich schliesse mich der Meinung des amerikanischen Regisseurs David Mamet an: Die Figuren gibt es eigentlich nicht. Film ist das Zusammenfügen von Dingen und deren Aufzeichnung mit einer bestimmten Technik. Auch Andy Warhol teilte diesen Standpunkt. Man hat einen Schauspieler oder eine Schauspielerin, Kostüme, einen Raum, ein paar Farben und ein paar Sounds – und schon ist ein Film erschaffen. Dieses Zusammenspiel der Dinge kann brillant, banal oder schlecht sein, das muss jeder für sich entscheiden.
Filmemachen klingt bei Ihnen einfach ...
Ich mag die Rhetorik nicht, wenn Filmschaffende den Arbeitsprozess als viel komplexer darstellen, als er tatsächlich ist. Sie sagen dann, der Film sei so schwer zu realisieren gewesen, sie hätten zwei Jahre lang nicht geschlafen. Oder es sei schwer gewesen, die Figur zu kreieren. Ich sage nicht, dass das nicht wahr ist, vielleicht ist es das. Aber Filmemachen ist nicht komplizierter als andere Dinge.
Durch Ihre Herangehensweise wird das Casting besonders wichtig. Wie finden Sie Ihre Darstellenden?
Casting ist für mich nicht leicht, weil ich keine gute Intuition habe. Aber bei der Hauptfigur in meinem aktuellen Film war ich mir absolut sicher. Ilinca Manolache ist eine Theaterschauspielerin, die schon früher kleinere Rollen bei mir übernommen hat. Ich wollte schon immer mit ihr an einem grösseren Projekt arbeiten und sie hat gleich zugesagt. Schauspielerinnen und Schauspieler haben ihre eigenen Persönlichkeiten und Eigenschaften, ihre Art zu sprechen, ihre Geschichte und ihre Körper. Ilinca Manolache war perfekt für die Rolle, es ist schwer, sich jemand anderen vorzustellen.
Ilinca Manolaches Figur Angela findet eine Entsprechung in der Hauptfigur eines realen Films aus den 80er-Jahren, den Sie in Ihr Werk eingebaut haben. Wie entstand diese Idee?
Ich habe mich gefragt: Was würde herauskommen, wenn ich diesen zensurierten rumänischen Film aus dem Jahr 1981 mit einer zeitgenössischen Handlung kombinieren würde – und das mit einer ähnlichen Hauptfigur? Für mich war das eine Möglichkeit, die Darstellungsweisen zu hinterfragen: Der eine Film wurde zu kommunistischen Zeiten gedreht, der andere in politischer Freiheit. Ich mag den alten Film wegen seiner subversiven Details, es sind die Stellen, die ich in Zeitlupe zeige, um sie hervorzuheben. Wenn man zwei verschiedene Bilder in der Montage zusammenfügt, entsteht eine Bedeutung, die zu keinem der beiden Elemente gehört, wie der sowjetische Regisseur Sergei Eisenstein sagte.
Angela hat noch eine weitere Ebene: Sie hat einen sexistischen Tiktok-Avatar namens Bobiça erschaffen – ist er eine satirische Reaktion auf ihr Umfeld?
Ja, er ist in gewisser Weise eine Karikatur. Ilinca Manolaches Avatar ist etwas Grenzwertiges, die Schauspielerin hat ihn erschaffen, bevor ich den Film gemacht habe. Die Karikatur ist eine interessante Kunstform. Sie überspitzt etwas, um es ins Lächerliche zu ziehen, doch sie übt keine direkte Kritik – deshalb mögen Aktivisten sie nicht. Die Karikatur will, dass die Betrachtenden selbst zur Erkenntnis kommen. Aber nicht jeder versteht das so. Der Avatar hat uns einige Gelder gekostet, denn Partner haben sich aus dem Film zurückgezogen, da ich mich weigerte, die Szenen mit Bobiça herauszuschneiden.
Gibt es unter Produzenten eine Tendenz, auf Nummer sicher zu gehen?
Ja, sie fördern Kunst- und Filmprojekte, die nicht provokant oder grenzwertig sind. Es muss gut, nett, schön sein (lacht) ... und wenn es kommerziell ist, umso besser! Deshalb sind die europäischen Filmproduktionen auch so langweilig. Beide politischen Lager, rechts und links, kritisieren einen. Ich sage nicht, dass es dasselbe ist, doch es kann zu denselben Ergebnissen führen.
Ihre Filme spielen in Rumänien, würden Sie auch im Ausland drehen?
Natürlich könnte ich im Ausland drehen, gerade bin ich mit einem französischen Produzenten im Gespräch. Doch habe ich festgestellt, dass die rumänische Realität eine extremere ist als die in Westeuropa. Wir sind gefangen zwischen Ost und West, haben mit einer totalitären kommunistischen Vergangenheit zu kämpfen und leben in einer neoliberalen Gegenwart. Diese Lebenswirklichkeit ist irgendwie fruchtbarer für die erzählenden Künste. Die Situation ist vergleichbar mit Italien nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Neorealismus war nicht nur wegen Roberto Rossellinis herausragendem Talent so überwältigend, sondern auch wegen der Realität der Nachkriegszeit.